31. Dezember 2010

Cristóvão Colombo - O Enigma (Manoel de Oliveira) 3,35




Oliveira, der hier auch die gealterte Hauptperson selbst spielt, scheint diesmal vor allem von Nationalstolz und Entdeckergeist getrieben. Christoph Columbus - Das Rätsel ist ein Werk, das für Oliveira scheinbar große Bedeutung hat, für den Zuschauer ist die wie eine Ahnensuche anmutende, eine Lebensspanne umfassende Schnitzeljagd nach Hinweisen, ob Columbus nun Portugiese war oder nicht in etwa so interessant wie wenn ein Korn Reis von einem Schiff ins Meer fällt. Und die Frau des Besessenen kann einem fast leid tun. Gepaart mit Oliveiras üblichem langsamen Tempo, aber der Absenz jeglicher faszinierender Motive seiner anderen Spätwerke (etwa den Begierden zwischen Mann und Frau, existenziellen Dialogen, oder ähnlichem) ist das leider, ausgerechnet zum Ausklang in diesem Blog, die größte Schlaftablette des Filmjahres.

30. Dezember 2010

Charly (Isild Le Besco) 8,12




Diese minimalistische Jugend-Außenseiter-Studie erinnert mit der verwaschenen VHS-Alltagshäßlichkeit und an den Menschen klebender Kamera anfänglich einmal an Harmony Korine oder die Dardennes. Die ersten Minuten sind für den Einstieg etwas mühsam und man muß sich erstmal ziemlich ratlos in den Film hinein quälen. Doch schnell wird alles etwas klarer: Der junge Nicolas lebt auf einem Bauernhof, er kann schlecht lesen, killt die Zeit und haut schließlich ab.

Ans Meer will er, sagt er dem Anhalter, doch in Wirklichkeit hat er einfach nur einem Lehrer im Café zufällig ein Buch mit einer dieses Meer abbildende Postkarte geklaut. - und scheinbar keinen Plan. In einem Dorf am Arsch der Welt gabelt ihn in den kalten Morgenstunden ein junges Mädchen auf und nimmt ihn mit nach Hause – in einen abgefuckten Wohnwagen. Eine Art Freundschaft zwischen zwei sozial ziemlich unterentwickelten Jugendlichen mit schrägen Ticks entwickelt sich und schließlich wird Charly, so der Name des Mädchens, auch zu Nicolas' erstem Mal; eine kuriose Sexszene übrigens, die man so sicher noch nie gesehen hat. Ebenso wunderbare Momente: wenn beide aus einem Wedekind-Buch lesen und man das Gefühl hat, hier werden möglicherweise spielerisch echte traumatische Erfahrungen der Charaktere vorgetragen, von denen sie aber selber in diesen Augenblicken gar nicht wissen, dass sie in diesem Buch stehen. Wie auch immer das genau gemeint ist, beeindruckend und schön ist die Szene allemal.

Am Ende dann, wie üblich in solchen Streunerfilmen, das Meer, gefilmt aber in einer überraschenden Ego-Perspektive. Aber halt: das war eben noch nicht ganz das Ende. Le Besco fügt dem sentimantalen Stereotyp nämlich noch eine weitere Szene hinzu, die den Werdegang von Nicolas, sein Ausreißen von daheim, aus der Schule, aus einem halbwegs geregelten Leben und eigentlich den ganzen Film in ein komplett anderes Licht rückt – die Reise geht wieder zurück zu den Großeltern.

Charly, von der mehr als Schauspielerin denn als Filmemacherin beschäftigten Le Besco, ist ein intensiver Jugendfilm, ein in jeder Beziehung echtes Außenseiterdrama, sowohl was Charaktere als auch Produktion betrifft und somit ein enorm frisches und erfrischendes Werk.

27. Dezember 2010

Interludium - Ocelot, Sciamma, Dresen


Kirikou et la Sorcière
(Kiriku und die Zauberin) 7,10

Afrikanisches Märchen um ein sehr selbstbewusstes Baby/Kleinkind, das ein Dorf von der Unterjochung einer bösen Zauberin befreit.

Der kleine, heroische (Verzeihung:) Scheißer kann mit seiner Art etwas nerven, die Geschichte ist für einen Kinderfilm nicht unbrutal; Kreativität wird nicht entfesselt, sondern in wohligen kleinen Dosen abgelassen, sodass man auch als Erwachsener trotz Längen gerne dran bleibt.

Nach dem du musst den alten Weisen auf der Spitze des Berges finden-Part gibt es eine nette und hintersinnige Auflösung, was die Bosheit der männerverschlingenden Zauberin betrifft. Kiriku ist ein spezieller, manchmal etwas nerviger Kinderfilm, eine Mischung aus klassischer Erzählung und lokaler Charakteristik, die insgesamt doch recht nett und schön eigen ist.



Naissance des Pieuvres (Wasserlilien) 6,35

Eine Pubertätsgeschichte im Synchronschwimmerinnen-Milieu. Eine Außenseiterin, die sich in die Diva des Schwimmclubs verguckt. Dass diese zwar bei den Jungs sehr gefragt, bei anderen Mädchen aber eher als „Hure“ verschrien und daher auch nicht gerade beliebt ist, stellt die Basis für eine Freundschaft dar. Dann gibt es da auch noch ein drittes Mädchen, noch mehr Außenseiterin und die echte beste Freundin vom ersten Mädel.

Naissance ist ein subtil poetischer Film, der nichts Großartiges leistet, jedoch einen schönen Ton zwischen pubertären Begierden und Unsicherheiten trifft.



Wolke 9 (8,04)

Der als äußerst fähig und sensibel filmend bekannte Sozialdramen-Regisseur Andreas Dresen dreht einen Film über Liebe und Sex bei Senioren. Was auf dem Papier wie ein potentieller Jahreskrösus klingt, mag nicht solche Begeisterung hervorrufen wie sein sensationell wunderbarer Vorgänger Sommer vorm Balkon, ist aber ein tolles, vielleicht ein klein wenig hölzern gespieltes Drama um Sehnsüchte, unerklärliche Gefühle, bittere Enttäuschung und unerwartete Veränderungen im hohen Alter.

Am Ende, so schrieb Rajko Burchhardt sinngemäß, sei das Werk moralisch und konventionell, doch vielleicht kann man dies gar als Aufforderung Dresens an Kollegen weltweit auffassen, zu diesem mutigen Vorbild alternative Entwürfe zu ähnlichen Seniorenthemen zu drehen.

26. Dezember 2010

Lung Boonmee raleuk chat (Apichatpong Weerasethakul) 8,12




Onkel Boonmee liegt nach einer Nierenoperation zuhause am Land im Sterben. Passend zum Abschied tauchen seine verstorbene Frau und der ebenfalls verstorbene Sohn als Geister auf (sehr stimmungsvolle und gerdezu humorvolle, warme Szenen sind das...).

Dschungelgeister und ebenso Wiedergeburt sind zentrale Themen in Onkel Boonmee, der sich an seine früheren Leben erinnern kann (bzw. der sich an seine früheren Leben erinnert). Themen, die bereits in Apichatpongs vorhergehenden Filmen, etwa dem genial fiebrig-faszinierenden Tropical Malady und dem vielschichtigen Syndromes and a Century vorherrschten. Die Existenz dieser schönen Vorgänger mag auch ein Grund dafür sein, warum der preisgekrönte und von vielen Kritikern geradezu hymisch gefeierte Onkel Boonmee doch nicht so eine Offenbarung darstellt bzw. nicht diese Ausnahmestellung im Gegenwartskino einnehmen kann, wie man durch die Vorschußlorbeeren vielleicht erwartet hätte. Es ist ein weiterer toller Schritt in AW's Schaffen, der Film ist schön, er ist faszinerend, manchmal witzig-überraschend, völlig ungebunden, aber das alles sind eben Qualitäten, die man von Weerasethakul schon kennt und seit Jahren schätzt. Vielleicht ist dies nicht sein aufregendster, aber tatsächlich sein reifster, massenkompatibelster Film, (was übrigens eine Parallele zum Gewinner der Goldenen Palme des Vorjahres bzw. dessen Schöpfers ersichtlich werden lässt).

25. Dezember 2010

A Letter to Uncle Boonmee (Apichatpong Weerasethakul) 5,14




Ein filmischer Brief, eine Vorstudie zum Hauptfilm Onkel Boonmee... im Rahmen des Primitive Project. Langsam bewegt sich die Kamera entlang, in Häusern, an Häusern, in den Himmel blickend, etc. Ein wenig Tiefe ergibt sich durch das Erinnern an Bewohner des Dorfes, die von Soldaten teils erschossen und teils verjagt wurden. Leider mutet der Film aber eher gekünstelt als kunstvoll an. 18 entschleunigte, wenig aufregende Minuten mit bekannten Weerasethakul-Motiven und Merkmalen - ein für das Publikum wenig gehaltvoller, kaum sehenswerter Kurzfilm.

24. Dezember 2010

Happy Christmas: The Magic Dozen (+1)

oder der knapp gescheiterte Versuch einer persönlichen All Time Top 10


2001 – A Space Odyssey
Alien
The Holy Mountain
Full Metal Jacket
Import Export
The Silence of the Lambs
The Terminator
Sommer vorm Balkon
Mulholland Dr.
Requiem for a Dream
The Fellowship of the Ring
Songs from the second Floor

&

Six Feet Under

23. Dezember 2010

Loos Ornamental (Heinz Emigholz) 5,54




Der vor kurzem gesehene Goff in der Wüste von Emigholz war (überraschend) eine nicht durchgehend, aber insgesamt schon beeindruckende Erfahrung (auch dank des feinen Audiokommentars). Emigholz hat danach auch weitere Filme des selben Prinzips gedreht, etwa Schindlers Häuser und hier eben einen über jene von Adolf Loos. Wiederum: „Architektur als Autobiographie“. Dass Loos Ornamental trotz erheblich kürzerer Laufzeit im Vergleich zu Goff wesentlich weniger aufregend und langatmiger ist, könnte vor allem an den gezeigten Bauten liegen, die sich im Vergleich zu den spannenden Goff-Sachen gewöhnlicher darstellen, aber natürlich auch daran, dass die Faszination für einen solch speziellen Film beim zweiten Mal etwas schwindet. Letztlich fallen die Häuser von Loos, mit Ausnahme des am Plakat sichtbaren, aber meistens in die Kategorie: tja, mhmh, usw... Dieses Werk dürfte daher nur Hardcore-Architektophilen Sehvergnügen bereiten.

21. Dezember 2010

Deutschland 09 - 13 kurze Filme zur Lage der Nation 6,43




Ein Live-Blog Versuch


Erster Tag (Angela Schanelec): Ein ganz stiller Auftakt: es scheint so, als wolle Schanelec den Omnibus-Film wie einen Tag (in Deutschland) ruhig erwachen und im Anschluß an ihren Teil erst beginnen lassen und endet mit einem Zitat, dessen Bedeutung auf Anhieb wenig fassbar ist. 5,5

Joshua (Dani Levy): ein weirdes Teil, wie ein Traum: Zunächst die dämliche Frage „Beschreiben Sie Deutschland in einem Satz“ an Passanten; danach der Regisseur bei einem (höchst eigenartigen) Psychiater, der Levy ein Mittel mit einem Wirkstoff namens Paragermanin verschreibt. Nach der Einnahme sind alle auf der Strasse fröhlich, feiern und tanzen (wäre das besser?). Levys Sohn, Joshua, fliegt dann weg und landet auf der Bundeskanzlerin! Das Mittel hat nachgelassen, ernste Polizisten werden gezeigt. Nach der neuerlichen Einnahme des Mittels sind sie locker und dann kommt eine sehr schräge Passage mit Terroristen, die unbehelligt ihre Anschläge planen (was will Levy eigentlich sagen?). Am Ende sitzt Merkel beim Psychiater und es fällt ein logischer Satz. 6,3

Der Name Murat Kurnaz (Fatih Akin): Interview mit einem Ex-Häftling aus Guantanamo, der den heutigen Außenminister Deutschlands anklagt, ihm nicht geholfen zu haben…so lala. 6,5

Die Unvollendete (Nicolette Krebitz): Ein junges Mädchen in einer leerstehenden Wohnung; es betreten ebenfalls: Susan Sontag und Ulrike Meinhof zu einem Blabla Jam mit dem zeitgenössischen, gefühlsgeleiteten, wenig intellektuellen Mädchen. Es geht um Politisches, Soziales, um Frauenthemen und endet mit einem nichtssagenden, eher dämlichen Satz. Schwacher Beitrag 3,6

Schieflage (Sylke Enders): Eine Einrichtung für Kinder von armen/verwahrlosten Eltern, wo sie ein Essen bekommen und nachmittags betreut werden. Der Betreuer wird zu einem TV-Interview gebeten und versucht, argumentativ zu erklären, bevor er zu dem Schluß kommt, dass dies Schwachsinn sei (die Dinge sind doch viel komplexer!) und nur noch einsilbige Antworten gibt. Die Reporterin vermisst danach ihr Portemonnaie, sofort wird der junge Jo, ein „Problemkind“ als Täter ausgemacht und verfolgt. Am Ende hatte die Reporterin das Portemonnaie nur im Auto liegen lassen – eine wenig überzeugende Schlusspointe, auch hinsichtlich ihrer scheinbaren Intention. Ein Kurzfilm mit einem gewissen Gespür für eine soziale Realität und einer tollen Szene, aber letztlich auch gerade wegen des Endes nicht überzeugend. 5,8

Der Weg, den wir nicht zusammen gehen (Dominik Graf & Martin Gressmann):
Ein Essay, zunächst über Architektur, in Form von alten, „abbruchreifen“, verlassenen Häusern in Deutschland, dann wird über den Bau eines neuen Bahnhofs in Berlin versucht die Brücke zur deutschen „Volksseele“ zu schlagen. Das ist teils interessant, teils erhellend, teils auch etwas doof in seiner Argumentation. 6,2

Fraktur (Hans Steinbichler): Satirischer Kommentar zur Abschaffung der Frakturschrift in der FAZ und einem LKW-Logistik-Boss als Stereotyp des reaktionären, kompromisslosen Kulturbewahrers. Naja. 6,25

Eine demokratische Gesprächsrunde zu festgelegten Zeiten (Isabelle Stever): Mulitkulti-Schulklasse hält ein ruhiges Treffen ab: Diskussionskultur wird gezeigt und damit beworben; eine Idealvorstellung, ein schönes Role-model, das aber zugleich recht klinisch wirkt. 6,7

Gefährder (Hans Weingartner): Nach realen Ereignissen wird die Geschichte eines engagierten, linken Professors erzählt, der als „Gefährder“, als eine Person, die dringend verdächtigt wird, terroristisch aktiv zu sein, überwacht und verhaftet wird: das ist scheinbar aber recht einseitig überhöht geschildert, dennoch ein Kommentar zum hochaktuellen Spannungsfeld aus Terroangst und Legitimation eines Überwachungsstaats; damit trifft Weingartner auf jeden Fall den Nerv der Zeit und sein Film scheint noch mit am besten in dieses Projekt zu passen. 7,5

Feierlich reist (Tom Tykwer): Der moderne Businessman, dauernd auf Achse, bzw. im Flieger, Tykwer schneidet schnell und zeigt einen Benno Führmann in Einkaufsstrassen, immer wieder rennt er zum Starbucks, etc. Eine Art oberflächliche Kurzversion von Up in the Air, manche Elemente wie bei American Psycho. Die Schlusspointe: naja. 6,5

Ramses (Romuald Karmakar): ein alter Puffbesitzer plaudert ungeniert aus dem Nähkästchen: fast ein bisschen Seidl-esk, die beste Episode. 8,0

Krankes Haus (Wolfgang Becker): Klinik Deutschland? Patient Deutschland! Aktuelle Probleme werden als Sozialinfarkt bezeichnet, Anträge und Anrufe ignoriert..
Der Versuch einer Gesellschaftssatire: ganz nettes Konzept, wieder nah am „Thema“, vielleicht einen Tick zu platt, aber sehr lebendig und verspielt.
Am Ende stimmen alle in den Massengesang ein, Licht kommt ins Elend (vielleicht haben sie ja auch was vom Paragermanin erwischt). 7,4

Séance (Christoph Hochhäusler):
Hochhäusler erzählt eine Sci-Fi-Geschichte im La Jetée-Stil: intelligent, eigen, herausfordernd, melancholisch. 7,4

17. Dezember 2010

Wärst du lieber tot? (Christina Seeland) 8,70




Schwerstbehinderte Menschen. Ein Thema, das für die meisten sicher eines der schwierigsten und unangenehmsten ist, sei es im realen Umgang mit solchen Personen oder wenn es auch nur darum geht, sich einen Film mit ihnen und über sie anzusehen. Auch der Schreiber dieser Zeilen nimmt sich da gar nicht aus. Enorm bewundernswert sind daher andererseits Personen, die es sich gar zur Lebensaufgabe machen (oder zumindest einen gewichtigen Teil ihres Lebens damit verbringen), Behinderte zu pflegen, sich um sie zu kümmern, sich mit ihnen intensiv zu beschäftigen.

Christina Seeland, die diesen wunderbaren Film auf die Beine gestellt hat, hat jahrelang in der Behinderten-Pflege gearbeitet. Diese Erfahrung ist natürlich bei so einem Thema Gold wert, denn so ein warmherziges, cleveres, flottes und unterhaltsames Werk hätte einem in dieser Hinsicht weniger erfahrenen Filmemacher kaum gelingen können.

Sechs auf ganz unterschiedliche Weise schwer beeinträchtigte Menschen spielen die Hauptrolle in dem erstaunlich schwung- und humorvollen, aber natürlich dennoch sehr respektvollen und nichts verharmlosenden oder verniedlichenden Film. Überraschende Ansichten der Porträtierten kommen zutage und es wird Lebensfreude vermittelt. Dass diese positiven Lebenseinstellungen, wie es im Film vielleicht ein bisschen(!) suggeriert wird, natürlich nicht auf der Tagesordnung stehen können, ist klar, doch gerade das Positive an einem derart extrem beeinträchtigten Leben wird ja oft ausgeklammert - ebenso wie das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis Schwerstbehinderter, das von oberflächlichen Medien, aber auch jedem selbst oft gar nicht wahrgenommen wird.

Ob dieses Erkenntnisgewinns und gleichzeitiger Lockerheit ist der dem Titel nach ja eher düster klingende Wärst du lieber tot? ein großartiger, vermutlich vom Thema den Otto-Normal-Unterhaltungs-Gucker erstmal abschreckender, aber sehr schöner Film. Seeland versteht auch einiges davon, mit Musik und Montage zu arbeiten, und es ist schon ein kleines Wunder, einen absolut ernsthaften und authentischen Behindertenfilm zugleich so gewitzt zu gestalten.

16. Dezember 2010

In dir muss brennen (Katharina Pethke) 6,22




Die heutige Gesellschaft ist mehr als früher von Stress und resultierenden Folgen wie Burn-Out geprägt. Ebenso gibt es so viele Motivationscoachings, Seminare, (alternative) Therapien wie nie zuvor. Dabei ist es, für Hilfesuchende ebenso wie für Fachleute, oft schwierig zwischen selbstgefälliger Geldmacherei und sinnvollen Behandlungen unterscheiden zu können (so auch etwa im Falle des oben abgebildeten Trainings). Dieser Dokumentarfilm zeigt einige der leicht schrägen Methoden live und beleuchtet, was durchaus sehenswert ist, die moderne Coaching-Kultur, leider in Summe eher assoziativ-beliebig denn kritisch-analytisch.

14. Dezember 2010

Interludium - Llosa, Nekes, Emigholz


Madeinusa 8,10

Ein Dorf am Ende der Welt - in den peruanischen Anden. Eine verschworene Gemeinschaft mit eigenen Gesetzen. Jeder Besucher ist hier ein Eindringling. Vor allem in der heiligen Zeit, wenn laut den Gläubigen Gott nicht sehen kann, was im Dorf getrieben wird. Der Bürgermeister freut sich deshalb schon, seine Tochter endlich entjungfern zu können. Doch dann kommt dieser Eindringling, ein antireaktionärer Reporter aus der Großstadt und wenig überraschend drängt sich die Liebe in all diese Trostlosigkeit und beschwört Lebensgefahr herauf...
Harter Stoff, filmisch sehr einfühlsam umgesetzt. Eigentlich besser als Llosas Folgewerk, der höher prämierte La Teta asustada. Madeinusa ist einnehmender, dringlicher, spannender.


Johnny Flash 6,45

Helge Schneider ist Johnny Flash, Andreas Kunze sein Manager. Helge Schneider ist Jürgen Potzkothen, Andreas Kunze seine Mutter. So könnte man das scheinbar ewig fortführen, denn beide spielen hier viele Rollen. Oder spielt nur Kunze mehrere, ich weiß es nicht, so schräg gehts hier zu. Vor allem ist Johnny Flash ein Musikfilm, Helge Schneider musiziert. Und alle blödeln. Das ist schon komisch, manchmal sogar höchst delirant inszeniert. Doch so ganz überzeugen kann diese Schrägheit (im Gegensatz zu einigen von Schneiders späteren Filmen) dann nicht, auf Dauer eher etwas anstrengend…


Goff in der Wüste 8,08

Heinz Emigholz filmt Architektur. Wie es heißt, ohne Kommentare. Nur Bilder von Häusern. Hier fast 2 Stunden lang. Kann man sich etwas Langweiligeres im Kino/Fernsehen vorstellen? Mit dieser Einstellung aber natürlich dennoch einer Portion Interesse war ich erstmal verwundert, dass Emigholz hier lebhaft über den Architekten Goff und über die Dreharbeiten spricht. Nach einiger Zeit schnalle ich dann, dass 3sat den Film im Zweikanalton mit Audiokommentar ausstrahlt. Und dass Emigholz sagt, wirken sollte man das lieber ohne Kommentar lassen. Hmm. Dabei ist der Film mit dem Kommentar echt spannend. Emigholz ist ein intelligenter, wortgewandter, humorvoller Mensch, dem man gerne zuhört. Und die Infos zu Goff auch höchst interessant. Doch wie ist das nun, ohne die Worte? Tatsächlich gar nicht so langweilig wie befürchtet, eine Sogwirkung stellt sich ein. Der Laie beginnt, Architektur wahrzunehmen. Sicher hat das Längen, aber die Konsequenz gefällt. Emigholz interessiert sich für diesen Goff und er filmt alle seine Bauwerke. Architektur als Autobiographie – ein großartiges Konzept. Eindrucksvolle Gebäude, eindrucksvolle Bilder, eindrucksvolle Art, einen Film zu machen. Auch ohne Worte.

13. Dezember 2010

Frauenzimmer (Saara Aila Waasner) 7,96




Porträt von drei Prostituierten zwischen 49 und 64 Jahren. Hauptsächlich wird das alltägliche, fast bürgerliche Leben der Frauen gezeigt, ihre spezielle Arbeit indessen nur dezent (aber schon eindringlich) angedeutet. Dieses Spannungsfeld zwischen verruchtem Geschäft und ganz normalem Alltag (mit oder ohne Partnerschaft) beleuchtend, gelingt der Regisseurin eine sehenswerte Doku über drei völlig unterschiedliche Frauen, die demselben unkonventionellen, mythenbehafteten Beruf nachgehen. Die Einblicke in die Biographien und Einstellungen und nicht zuletzt in die titelgebenden Lebensräume der Frauen sind (freilich auf die ruhige Art) spannender als viele geschriebene Thriller oder Dramen. Feinfühlig und leise erzählt, aber (nach-)wirkend, auch wegen einem noch nicht ausgelutschten Thema – hier ist alles da, was eine gute Dokumentation über besondere Menschen ausmacht.

9. Dezember 2010

Maria Larssons eviga ögonblick (Jan Troell) 7,61




Die dramatische Geschichte um die gutherzige und willensstarke Maria Larsson, ihre Schwierigkeiten im Zusammenleben mit ihrem Ehemann (einem impulsiven Alkoholiker, Ehebrecher und Schläger) und den vielen Kindern im Schweden am Ende des 19. Jahrhunderts mutet authentisch an und ist ein gefühlvoll erzähltes, auch leicht nostalgisches Arbeiterklassen-Familienepos. Die Leiden einer in einem überholten Rollenbild gefangenen Frau unter einem gewalttätigen Ehemann zu thematisieren ist in der Kunst nicht besonders neu, doch wie sich Maria auch dank der Leidenschaft für Fotografie emanzipiert - auf diese Fotografien bezieht sich auch der Titel Die ewigen Augenblicke der Maria Larsson - und ihren Mann trotz all der Leiden irgendwie weiter liebt, wird in Troells schönem Film sehr gekonnt und leise bewegend inszeniert und vor allem gespielt.

8. Dezember 2010

Piranha (Alexandre Aja) 3,82




Und gleich der nächste Fisch-Film: Leider ein ziemlich mieser: dumm, dümmlich, klischeehaft. Jerry O'Connell nervt unglaublich, seine Szenen als koksender, kotzbrockiger Sexclip-Regisseur haben dabei aber keinerlei kritisch-satirische Qualität, ebenso die endlosen Spring Break-Szenen, flache Macho-Witzchen und was hier sonst noch so alles an (männlich-)Gröbstgeistigem anfällt.

Aber, immerhin gibt es hier ein aber: Alexandre Aja ist nämlich, obgleich er für seine Karriere bislang noch keinen Originalitätspreis gewinnen kann, ein sehr fähiger Regisseur und sein Film ist deswegen hin und wieder trotzdem ein Erlebnis, vor allem in der zentralen Massenszene, die ein unglaubliches Gore-Feuerwerk abbrennt. Die morbid-makabre Kreativität bei dieser Massenpanik zwischen Wasser, Motorbooten und Plätzen am vermeintlich sicheren Trockenen ist toll; zig ausgemergelte und ausgeweidete Körper füllen plastisch die Leinwand, eine jetzt schon legendäre Sequenz: schauerlich und spaßig zugleich und dabei beeindruckend inszeniert.

Auch weitere Szenen wie jene mit den beiden Meernixen oder dem malträtierten Geschlechtsteil sind köstlich, der Film macht zwischendurch also schon Spaß. Doch gerade am Ende wird es wieder so sagenhaft lächerlich, dass dieser Spaß unnötigerweise verdorben wird. Rund um die angesprochenen Abschnitte hätte mit etwas weniger Primitivität ein gewitzt-blutiger Tierfantasyhorrror entstehen könnnen, es gab ja schon einige (harmlosere) Beispiele von nicht so extrem dümmlichen Filmen dieser Gattung (z.B. Arachnophobia oder auch Arac Attack). Piranha ist aber leider die meiste Zeit so schlecht, dass am Saaleingang nicht abgegebene Gehirne irgendwann beleidigt sind.

7. Dezember 2010

Gake no Ue no Ponyo (Hayao Miyazaki) 8,02


Ponyo - Das große Abenteuer am Meer beginnt gleich wunderschön mit einer Ansammlung von Meerestieren, der Zeichenstil wirkt in weiterer Folge entspannt simplifiziert und detailreich zugleich. Der Film ist im Gegensatz zu einigen Miyazaki-Vorgängern auch durch eine deutlich einfacher gestrickte Handlung charakterisiert, zudem noch kindlicher als die letzten Werke und erinnert mit seinem weitgehend friedlichen Wohlfühlsetting am ehesten noch an die Stimmung aus Mein Nachbar Totoro. Schön ist vor allem, dass das Element Wasser bzw. das Meer einmal die Hauptrolle spielt. Wenn der Meerzauberer den Wind die Wellen zu gigantischen Ausmaßen peitschen lässt, erreicht der Anime seinen Höhepunkt und wenn danach ganze Straßen unter Wasser stehen und von allerlei Meerestier bevölkert werden, ist das meditativ-bezaubernd. Die Haupt-Handlung um die innige Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Fischmädel mit Zauberkräften ist wie gesagt eher einfach, aber es gibt dennoch genügend Überraschungen, sodass der Film nie auch nur annähernd flach wird.

Ponyo auf der Klippe (so wäre die korrekte Übersetzung) ist also ein weiterer fantasievoll-schöner Beitrag zu Miyazakis Gesamtwerk. Er mag kein überbordend komplexes Wunderwerk sein, wie es sie vom Meister schon gab, dennoch gab es heuer kaum einen besseren "Sonntag Nachmittags-Film“ für Alt und Jung.

6. Dezember 2010

L'avocat de la terreur (Barbet Schroeder) 7,28




Eine sehr aufwendige Dokumentation mit einem Massenaufgebot an (ehemaligen) Kriminellen, Terroristen, Politikern, Experten, Zeitzeugen und natürlich dem Anwalt des Terrors selbst: Jacques Vergès, ein legendärer, undurchsichtiger Anwalt, eine politisch und menschlich ambivalente, selbstherrliche Persönlichkeit.

Der vielseitige Schroeder, der schon früh eine berühmte Dokumentation über General Idi Amin gedreht und danach einige nette Spielfilme (Highlights zwischen 1987 und 1994: Barfly, Single White Female und Kiss of Death) abgeliefert hat, beeindruckt lange mit toller Montage aus rasant geschnittenen Interviews, die mit Archivszenen kombiniert werden. Aber man wird mehr als 2 Stunden ununterbrochen mit Information bombardiert, was auf Dauer selbst für die Hartgesottenen ermüdend sein dürfte. Zudem ist Im Auftrag des Terrors auch bei weitem nicht der erste Spiel- oder Dokufilm über den politischen Terrorismus der 70er. Und schlussendlich kommt auch der charismatische Vergès selbst vergleichsweise gar wenig zu Wort. Ein paar Probleme also eines ansonsten toll aufbereiteten, leicht mühsamen Films.

5. Dezember 2010

Jackass 3D (Jeff Tremaine) 7,46




Die großen, kreativen Ideeen im Jackass-Universum werden langsam spärlich, das für JA ebenfalls neue 3D ist eigentlich völlig für die Würste. Dennoch macht der Film wieder einen Heidenspaß. Vor allem diese pure Kindlichkeit der körperlich längst erwachsenen Jungs bei ihren wilden, blöden, pubertären oder gar beängstigend fahrlässig anmutenden Aktionen wärmt das Herz und foltert das Zwerchfell eines jeden Fans. Die unglaubliche Körperkomik ist auch in der x-ten Auflage noch enorm unterhaltsam und die noch mehr forcierten Genitalgags sowieso das beste.

Am Ende stehen viele Memories, Jackass wird plötzlich sentimental, das ist dann doch neu. Deutet da schon jemand das Ende einer Reihe an? Hoffentlich nicht, dennn was der öde Saw schafft, können die Jackassler doch wohl auch. So mögen Teil 4 und mit etwas Abstand weitere, vielleicht ja dann mit den Namen 5(0+) und 6(0+), gerne wieder das Kino mit Kotze, Schweiß und Freudentränen befüllen.

3. Dezember 2010

In 3 Tagen bist du tot 2 (Andreas Prochaska) 6,30




Das Teen-/Twen-/Zehn Negerlein-Slasher-Thriller-Genre zeichnet sich per se nicht gerade durch viele Höhepunkte aus. Es gibt natürlich einige sehr tolle Filme, der Rest ist meist aber nur gähnend langeweiliges Runterbeten des ewig gleichen blutlüsternen Rosenkranzes. Die österreichische Dialektvariante In 3 Tagen bist du tot wusste durch das spezielle Setting im Salzkammergut und wegen der flotten Inszenierung durchaus zu gefallen, mehr aber auch nicht. Dazu noch einen weiteren Aufguß zu drehen, scheint also erstmal wenig spannend.

Und in Prochaskas Fortsetzung seines eigenen Films tut sich auch vorerst ksum etwas, das dieses Vorurteil widerlegen könnte. Eine gemächliche (Krimi- und) Trauma-Story wird da ausgebreitet, ohne dass Drehbuch oder Schauspieler diese Traumatisierung überzeugend vermitteln können. Die Geschichte ins verschneite Bergland Tirols zu verlegen ist ein netter Einfall, aber abseits dieser Kulisse kann der Film zu lange nichts bieten. Dennoch beeindruckt am Ende der langgezogene „Showdown“ mit blutiger Kompromisslosigkeit und dichter Atmosphäre – in dieser letzten halben Stunde unterhält Prochaska den Zuschauer doch noch gekonnt und sorgt für Intensität. Aber so ähnliche Überlebenskampf-Filme gibt’s halt auch schon wie Sand am Meer, wertvoll ist das auf keiner Ebene und selbst für niedrigere Ansprüche hat der Thriller geasmt gesehen zuviel Leerlauf bzw. erinnert in seinen besten Regie-Momenten an interessantere Genrekollegen, wie etwa Haute Tension. Fazit: Kann man schon mal ansehen, ohne dass es ärgerlich ist, aber auch nur, wenn einem wirklich gar nichts Besseres mehr einfällt.

1. Dezember 2010

Mein halbes Leben (Marko Doringer) 7,35




Ein 30-jähriger in der Krise. Bisher hat er in seinem Leben nichts erreicht, er beschließt einen Film über seine daraus resultierenden Selbstzweifel zu drehen. Mit der Kamera bewaffnet (das Ganze ist konsequent aus einer Art Egoperspektive gefilmt), porträtiert er seine Freunde und Bekannte, die bereits "etwas aus sich gemacht haben", sei es beruflich oder privat oder beides – und immer aber auch thematisiert der Filmemacher sich selbst, seine Gedanken, seine Einschätzungen. Nur wenn er beim Psychologen sitzt, lässt sich Doringer ausnahmsweise von der eigenen Kamera aufnehmen – ein durchaus sympathisches Zeichen.

Die unterhaltsam-nachdenkliche Analyse von Lebensentwürfen ist immer von einer Melancholie, aber auch einer gewissen Süffisanz und Selbstironie durchzogen, zuweilen kann das Jammern der Protagonisten auch etwas nerven. Letztlich ist Doringers Film jedoch ein unterhaltsamer und charmanter Einblick in Lebenseinstellungen einer zwischen modern geprägter Selbstverwirklichung und traditionellen Rollenbildern zerrissenen Generation (und deren Eltern) - bzw. naturgemäß dem Umfeld des Regisseurs entsprechend, sind es hier bloß bestimmte Verteter der gehobenen Mittelschicht.